Spiegelträume
Kannst du dich noch an deinen großen Traum aus Kindertagen erinnern? Wohin deine Wege dich später führen werden? Was du, wenn du erwachsen wärst, gern werden wolltest? Vielleicht als Feuerwehrmann/-frau in einem coolen Löschfahrzeug mit Sirene umherfahren und gefährliche Brände löschen? Als Tierarzt/-ärztin süße Tiere heilen? Oder vielleicht als Polizeibeamter für Ruhe und Ordnung sorgen? Vermutlich hat jedes Kind im Laufe seiner Kindheit mindestens einmal eine genaue Vorstellung von dem Leben, das es später mal führen wird. Und doch kommt manchmal alles anders.
Als ich damals begriffen hatte, dass Hexe wohl kein anerkannter Beruf ist, habe ich, dank meiner Kinderärztin und meiner Mutter, meine Leidenschaft für das Singen und das Schauspiel entdeckt. Nirgends fühlte ich mich so wohl wie auf der Bühne! Egal ob mit dem Kinder- und Jugendchor, bei Soloauftritten oder auf der Bühne im Theater, ganz versunken in meiner Rolle. Jaaa, das Lampenfieber in den Stunden vor dem Auftritt war furchtbar. Aber kaum ging der Vorhang nach oben, die ersten Töne wurden angespielt, und alles war vergessen. Da war nur noch eine angenehme Ruhe in mir drin, und die Euphorie hat mich ganz hibbelig gemacht. Es war, als wären wir alle eins und doch jeder für sich etwas Besonderes.
Im Theater habe ich als junge Jugendliche mein erstes Geld verdient, und ich war so wahnsinnig stolz. Es war keine Arbeit für mich; auch wenn ich gelegentlich ein paar Texte oder Lieder auswendig lernen musste, fiel es mir meist leicht. Egal ob Opern, Rock, Pop, Weihnachtslieder oder kleine Sprechrollen... ich habe so viel dabei gefühlt. Gelegentlich sind mir beim Singen selbst still einzelne Tränen über das Gesicht gelaufen, weil der Schmerz in dem Lied mich überwältigt hat. Oder mein Herz hat ganz wild geschlagen, und die Glücksgefühle sind mit mir durchgegangen.
Auch beim Schauspiel erging es mir oft so. Ich habe an den richtigen Stellen lachen oder weinen können, weil ich gedacht und gefühlt habe, was meine Rolle denken und fühlen sollte. Und alles um mich herum war vergessen. Hatte ich vergessen, eine Hausaufgabe abzugeben? Habe ich gerade eine verhauene Klassenarbeit zurückbekommen? Habe ich mich kurz davor mit einer Freundin oder den Eltern gestritten? Es war alles weg. Nur noch das Stück war real. Und meine Rolle war ich. Und es fühlte sich so viel einfacher an, als mein eigenes Leben zu leben. Ich wusste genau, was von mir erwartet wird, was ich zu tun habe und was danach passieren wird. Alles hatte eine genaue Struktur, und alles war genau geplant. Und Schmerzen, die man in der Rolle auf der Bühne gefühlt hat, waren am Ende des Schauspiels wieder geheilt.
Aber so ist das Leben nun mal nicht. Und ein paar Jahre später, bereits voll in der Pubertät, habe ich das auch so richtig begriffen. Ich hatte außerhalb des Theaters einen etwas ... nennen wir es "speziellen" Freundeskreis gefunden, auf den ich nicht näher eingehen möchte. Nur so viel: Ich habe von ihnen vieles gelernt. Teils gutes Wissen und positive Erfahrungen, allerdings für eine 14-Jährige auch viel nicht so sinnvolles Wissen und einige sehr prägende, negative Erfahrungen. Und mein Leben hat sich komplett verändert. Und wenn es meine Eltern vorher schon schwer mit mir hatten, wurde es ab da nur noch komplizierter.
Mit 15 bin ich dem Chor und dem Theater wegen körperlicher oder geistiger Abwesenheit und anderen Gründen verwiesen worden.
Damals kein Weltuntergang. Es gab schließlich andere Wege, glücklich zu sein und das Leben für ein paar Stunden vergessen zu können. Heute läuft mein Leben immerhin halbwegs in die richtige Richtung... glaube ich. Ich bin bereit, mich meinem Leben mit all seinen Fragen, Problemen und Lichtblicken zu stellen. Aber die Musik und das Schauspiel scheinen inzwischen unerreichbar. Jedes Mal, wenn ich mir eine Theateraufführung ansehe, denke ich:
"Tja, da oben könntest du jetzt auch stehen."